Bild: Vera Isler fotografiert ihre skulpturalen Keramikmodelle aus der Chromosomen-Serie (bis 1984). Fotografiert von Nomi Baumgartl, 1990.

Vera Islers künstlerische Praxis umfasst fast fünf Jahrzehnte. In den 1960er Jahren begann sie mit Textilien und Wandteppichen, bevor sie zu wissenschaftlich-technischem Arbeiten mit Karton, Holz, Beton, Blei, Keramik und Druckgrafik überging. Mitte der 80er Jahre gab sie alles für ihre letzte und erfolgreichste Karriere in der Fotografie auf. Isler war leidenschaftlich auf der Suche nach ungewöhnlichen Motiven. Sie war mit ihrem Gespür für Randthemen und ihrem Durchhaltevermögen immer ihrer Zeit voraus. Nicht selten setzte sie sich über journalistische Konventionen hinweg und fand immer ihren eigenen, oft unkonventionellen Weg, ihre Entdeckungen einem breiten Publikum zu zeigen.

Vera Islers Biografie ist von Tragödie und Not geprägt. Mit ihren beiden Schwestern wurde sie von ihren Eltern 1936 von Berlin in die Schweiz geschickt. Ihre Eltern - osteuropäische Juden - beantragten erfolglos ein Einwanderungsvisum in die Vereinigten Staaten und wurden 1942 von den Nazis im Vernichtungslager Bełżec (Polen) ermordet.

Isler setzte sich intensiv mit ihrer Biographie und ihrem jüdischen Erbe auseinander  um zu  verstehen, was mit ihr und ihrer Familie passiert ist und wo sie hingehörte; sie nannte das «Spurensuche». Ihr politisches und historisches Interesse begleitete sie immer wieder fotodokumentarisch. Eine große Zäsur war 1998 die Brustkrebs-Diagnose. Isler bestand auf einer Amputation beider Brüste. Nachdem sie sich die Narben mit einem Blumenkranz/«Blue Flowers»-Tattoo "dekorieren" liess, ging sie damit auch an die Öffentlichkeit. 2000 veröffentlichte sie ihre Biografie «Auch ich». Ihre Familiengeschichte und ihr Engagement für das neue Jüdische Museum in Berlin führten sie 2002 nach Polen. 2002 erschien der Film «Where are the ashes of my parents» (Polen: Auschwitz-Birkenau - Bełżec, Spurensuche). 2011 wurde «Einen Augenblitz, bitte!», ein Dokumentarfilm über ihr Leben, veröffentlicht. Vera Isler starb 2015 an Krebs. 

Schon als Kind interessierte sich Isler für Kunst, entschied sich aber aus wirtschaftlichen Gründen für eine Ausbildung zur Medizinal-Laborantin. In den 1960er Jahren begann sie, als Autodidaktin künstlerisch zu arbeiten. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, zeigte in vielen internationalen Institutionen und konnte zahlreiche Sammler:innen für ihre Arbeiten begeistern.  

Bild: Vera Isler: "Frustration"; 80x120cm, Blei und Holz, 1983.

Durch das künstlerische Werk von Vera Isler führt kein roter Faden im traditionellen bildwissenschaftlichen Sinne. In den 60er und 70er Jahren orientierte sie sich an den europäischen Avantgarden, die mit einem modernen künstlerischen Selbstverständnis und einer neuen Formen- und Bildsprache die Kunst revolutionierten. Ihre Experimentierlust und Technikbegeisterung zeigt sich in der Materialvielfalt und den neuen Methoden der Bildherstellung. Als Gestaltungsmittel verwendete sie nicht mehr ausschließlich Farbe, sondern technische und industrielle Werkstoffe wie Aluminiumplatten, Glas, Spiegel, Karton und Produktabfall. Ihre frühen konkreten Arbeiten sind intermedial ausgerichtet und bewegten sich immer an der Grenze zur Dreidimensionalität.  

In den späten 70er Jahren begann Vera Isler, sich für die Gentechnologie zu interessieren. Ästhetisch und thematisch bewegte sich Isler zwischen Gen-Forschung und Ethikdebatte; die Feminismus-Diskussion der 70er und 80er Jahre spielt auch hier keine unerhebliche Rolle. Im gegenwärtigen politischen Diskurs sind die ethischen Fragen zur Genforschung und Genmanipulation genauso aktuell wie das Verhältnis der Geschlechter, Gleichberechtigung und Gleichstellung. 

Ab 1984 widmete sich Vera Isler ausschliesslich der Fotografie. Sie arbeitete hauptsächlich als Dokumentar- und Pressefotografin mit dem Schwerpunkt auf  soziale Themen. Als Porträt-fotografie machte sie sich auch einen Namen. Ihre Fotoserien wurden in nationalen und internationalen Zeitschriften und Büchern publiziert; diese Aufträge und Publikationen gaben ihr die ersehnte finanzielle Absicherung. 

Isler benutzte ihre Kamera, um gesellschaftliche Randgruppen zu dokumentieren und ihnen dadurch Sichtbarkeit zu verschaffen. Sie veränderte die Art und Weise, wie das europäische Publikum die übersehenen und ignorierten Teile der Gesellschaft betrachtete. 

Bild: Gay Rights - Parade, Los Angeles, 1983.

US-Homosexuellen- und Jugend-Kulturen, urbanes Präkariat, die Autonomen Jugendzentren der Schweiz (AJZ), Menschen über 80, um nur einige ihrer Themen zu nennen. Vor allem ihre Fotografien der AJZ können als Manifeste einer Rebellion der Jugendlichen gegen die Schweizer Bourgeoisie und den Mainstream gelesen werden. 

Bekannt wurde Isler jedoch vor allem durch ihre mehr als 110 Porträts berühmter internationaler Künstler:innen (1984-2003), die in zwei Serien «Face to Face I» und «Face to Face II» veröffentlicht wurden. Ihr Zugang zur Porträt-Fotografie revolutionierte die Art und Weise, in der Künstler:innen dargestellt wurden. Die künstlerische Persönlichkeit, Physiognomie und Mimik erschuf ein narratives Netz, das Geschichten sichtbar machte, von denen die Dargestellten selbst nicht einmal etwas wussten. 

Reisefotografie: Vera Isler reiste viel, berichtete darüber und verkaufte ihre Geschichten an die internationale Presse. Nordafrika bei den Beduinen, Sibirien, Asien - vor allen Dingen Hong Kong und China - waren genauso auf ihrer Liste wie die USA. Isler zog es seit den frühen 1980er Jahren immer wieder monatelang nach New York City. Die vielfältige Kultur der Stadt faszinierte sie. In New York Citys Lower East Side mischte sich Isler unter die Einheimischen und schuf ein vielfältiges und kritisches Fotoportfolio. Sie nahm sich das Thema «Wasser» vor und folgte seinen Spuren durch die ganze Stadt.

Ihr Blick war zwanglos, unaufdringlich und hielt so die Dichotomie zwischen Reich und Arm, Schwarz und Weiss und privilegierten und unterprivilegierten Teilen der Gesellschaft fest. Die Themenvielfalt bei Vera Isler ist immens, die Liste ihrer Publikationen auch. Auch lokale Themen und Kollaborationen mit Basler Kunst- und Kulturschaffenden gehörten dazu. 

2015 starb Vera Isler an Krebs. Sie kämpfte bereits lange mit der Krankheit und dokumentierte diesen Kampf. Mit ihrem Buch «Auch ich» brachte sie das Tabu-Thema Brust-Krebs und -Amputation literarisch und künstlerisch an die Öffentlichkeit.